Ausgangssituation

Am Produktionsstandort von Magna in Graz werden Gesamtfahrzeuge für unterschiedliche Automobilhersteller gefertigt. Die Herausforderung im Fertigungsprozess besteht darin, auf ein und derselben Produktionslinie verschiedene Fahrzeugmodelle für verschiedene OEMs zu produzieren.

Hierzu werden geometriebildende Transportvorrichtungen verwendet, die als Adapter zwischen der Bodengruppe der unterschiedlichen Fahrzeuge und dem Prozess fungieren. Im Serienablauf nimmt eine Transportvorrichtung pro Durchlauf eine Karosse im Aufbauzustand „Bodengruppe“ zu Beginn des Karosseriebauprozesses auf und begleitet diese beim Aufbau zur Komplettkarosse. Eine geometrische Abweichung in der Vorrichtung kann nicht nur zu Abweichungen in der Karosse, sondern in weiterer Folge zu Schwierigkeiten entlang der gesamten Produktions- und Wertschöpfungskette führen.

Um Abweichungen bei der Produktion der Karossen zu verhindern, müssen die Transportvorrichtungen ständig hinsichtlich ihrer geometrischen Maßhaltigkeit überwacht werden. Ursprünglich mussten die Transportvorrichtungen deswegen zu vorgegebenen Wartungsintervallen von 3 bis 6 Monaten manuell aus dem Prozess ausgeschleust und offline in einem Messraum mittels Koordinatenmessgerät vermessen werden. Dieser Überprüfungsprozess war nicht nur zeit- und kostenintensiv, sondern führte durch die großen Abstände der Wartungsintervalle auch zu einem Risiko im Produktionsprozess. Im ungünstigsten Fall konnten Abweichungen bei der Transportvorrichtung über einen Zeitraum von mehreren Wochen bis Monaten unentdeckt bleiben und Karossen negativ beeinflussen.

Lösung

Als Teil der Qualitätsabsicherung bzw. der Karosseriebauregelung werden die Karossen bereits jetzt mittels robotergestützter Inline-Messstationen überwacht. Dabei werden 100% aller Karossen im Fertigungsdurchlauf mit optischer Messtechnik geometrisch vermessen. Die Messhardware sowie die erzeugten Messdaten sind Stand der Technik und waren vor Projektbeginn vorhanden. Dasselbe gilt für das Fertigungssteuerungssystem, aus welchem die Information zum Produkttyp sowie die Zuordnung zwischen Transportvorrichtung und Karosse gewonnen wird.

Die neue Lösung „Indirect Automated BIW Fixture Control“ nutzt nun die vorhandenen Messdaten der Karosse als Input, um abweichende Transportvorrichtungen in Echtzeit im Prozessdurchlauf zu erkennen. Die Berechnungslogik für die Erkennung basiert auf dem mathematischen Zusammenhang zwischen der Bodengruppe der Karosse und der geometriebildenden Transportvorrichtung. Der Schlüssel ist die Korrelation zwischen den gemessenen Abweichungen der Karosse und den ursächlichen Abweichungen in der Transportvorrichtung. Hierzu wurden die Ursachen-Wirkungszusammenhänge sowie Gewichtungen und Hebelwirkungen analysiert und als mathematische Formel aufgebaut. Diese Formel wird als Konfigurationsdatei bezeichnet und unterscheidet sich je nach Produkttyp der Karosse.

Weil sich Abweichungen in der Vorrichtung immer auf mehrere Merkmale gleichzeitig auswirken, werden die entsprechenden Messpunkte gemäß Konfigurationsdatei zu Gruppen zusammengefasst. Danach wird in jeder Gruppe durch eine Verschiebung aller Messwerte ein Wert berechnet, der angibt, wie groß der Einfluss der Vorrichtung auf die Messungen war. Auf Basis des Ergebnisses wird die Wahrscheinlichkeit einer Abweichung in Prozent je Transportvorrichtung berechnet, die in einer Power-BI-Applikation visualisiert wird. Die Applikation ermöglicht eine Analyse bzw. eine zielgerichtete Ausschleusung einer Transportvorrichtung für Instandhaltungszwecke. Alternativ erfolgt die Ausschleusung vollautomatisiert nach Überschreitung eines festgelegten Wahrscheinlichkeitswertes. Nach geometrischer Korrektur der Transportvorrichtung wird diese wieder in den Puffer eingeschleust.

Nutzen

Die neue Lösung hat den ursprünglichen Überprüfungsprozess mit Aussteuerung aller Transport­vorrichtungen zu vorgegebenen Wartungsintervallen abgelöst. Durch die zielgerichtete Ausschleusung von abweichenden Transportvorrichtungen konnten freie Messmaschinenkapazitäten gewonnen und der manuelle Aufwand deutlich reduziert werden. Dadurch konnten die OEE im Karosseriebauprozess erhöht sowie Fehlerkosten über die Wertschöpfungskette der Gesamtfahrzeugfertigung durch Reduktion von Ausschuss und Nacharbeit reduziert werden. Dies wurde durch die Reduktion der Reaktionszeit für die Erkennung von abweichenden Vorrichtungen im Prozess sowie die Automatisierung der Ausschleusung erreicht.

Bei der Lösung handelt es sich um eines der ersten funktionsfähigen cyberphysischen Prüfsysteme in einem Serienprozess. Der Fortschritt gegenüber dem Stand der Technik bzw. verfügbaren Veröffentlichungen liegt in der Erweiterung der Systemgrenze von einer einzelnen cyberphysischen Maschine auf einen vollautomatisierten Gesamtprozess mit digital vernetzten Hardware- und Softwarekomponenten im Praxiseinsatz.

Der Vorteil der Lösung liegt darin, dass alle relevanten Projektschritte (Datenaufbereitung, Datenexploration, Korrelationsanalyse, Algorithmuserstellung, Automatisierung und Prozessimplementierung) nicht nur seriennah auf Basis einer Kundenanforderung durchgeführt werden konnten, sondern das Endergebnis sich uneingeschränkt im Großserien-Produktionsprozess im Einsatz befindet. Darüber hinaus konnte ein modularer Aufbau des Prozesses erreicht werden, was eine weitere Skalierung ermöglicht und Folgekosten deutlich reduziert. Durch den Einsatz eines cyberphysischen Prüfsystems wird eine Effizienzsteigerung, Kostenreduktion und Qualitätsverbesserung in der bestehenden Fahrzeugproduktion erreicht. Die Innovation leistet einen Beitrag dazu, die Wettbewerbsfähigkeit am Standort Graz weiter auszubauen und Nachfolgeaufträge zu lukrieren.

https://www.youtube.com/watch?v=GTU1EkVZB08

Kurzvorstellung des Unternehmens

Eine mehr als 120-jährige Erfahrung in der Entwicklung und Fertigung von Fahrzeugen macht Magna Steyr zu einem bevorzugten Partner für traditionelle OEMs und neue Player in der Automobilindustrie weltweit.

Mehr als 4 Millionen Fahrzeuge lautet die beachtliche Zahl, die bislang vom Fertigungsband gelaufen sind. Insgesamt hat Magna als Gesamtfahrzeugfertiger bislang 33 verschiedene Modelle für 11 verschiedene OEMs produziert.

Autor

Michael Gfoellner

MAGNA STEYR Fahrzeugtechnik GmbH & Co KG
Liebenauer Hauptstraße 317
8041 Graz
www.magna.com

© StEP-Up

Weitere konkrete Lösungen zum Thema „Industrie 4.0“ aus der industriellen Praxis finden Sie in der StEP-Up-Publikation „Industrie 4.0 in der Anwendung. Konkrete Lösungen aus der industriellen Praxis.“

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